USA riskieren Armageddon
US-Ökonom Jeffrey Sachs sprach in Wien über Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs
Von Dieter Reinisch, Wien
Thomas Lehmann
»Wir rechtfertigen hier nicht die russische Invasion, denn die war falsch und illegal.« Heinz Gärtner (l.) an die Kritiker von Jeffrey Sachs (r.)
Knapp 100 Zuhörer hatten sich am Montag abend im Veranstaltungsraum »Novum« gegenüber dem Wiener Hauptbahnhof versammelt. »Wir haben diesen privaten Raum und keine öffentliche Einrichtung ausgewählt, damit wir keine Probleme bekommen«, stellte Fritz Edlinger gleich bei der Begrüßung klar und spielte damit auf die Absage der Friedenskonferenz durch den Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und den Presseclub Concordia an.
Edlinger ist Herausgeber der Zeitschrift International und einer der Organisatoren des Abends. Auf der Bühne sitzen der Politikwissenschaftler Heinz Gärtner und Jeffrey Sachs, Ökonom von der Columbia University. Letzterer musste in den Tagen vor der Konferenz als Vorwand für die Absage herhalten (siehe Hintergrund).
Und das, obwohl Sachs am Friedensgipfel selbst nur über Videoschaltung teilnahm. Er weilte am Wochenende noch in Rom, wo er eine Veranstaltung zum 60. Jahrestag der »Friedensrede« von John F. Kennedy (am 10. Juni 1963) organisiert hatte: »Die größte Rede eines amerikanischen Präsidenten«, so Sachs. Denn sie habe fünf Wochen später zum Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen geführt: »Hören Sie sich die Rede an. Auch meine Familie musste sie schon mehrmals hören«, erzählte Sachs.
Am Montag war er dann auch persönlich nach Wien gekommen. Im Saal wurden, anders als in der politischen und medialen Öffentlichkeit, seine Argumente durchweg zustimmend aufgenommen. Heinz Gärtner eröffnete das Gespräch mit einer Ansage an die Kritiker von Sachs: »Wir rechtfertigen hier nicht die russische Invasion, denn die war falsch und illegal.«
Bei seinen Antworten konzentrierte Sachs sich vor allem auf einen Komplex: die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs. Die reiche neun Jahre zurück, in den Februar 2014, zum Sturz von Wiktor Janukowitsch, so Sachs. Dieser sei von den USA in Form eines Regimewechsels geplant und durchgeführt worden. Seither ist die Ukraine der Schauplatz eines Stellvertreterkriegs zwischen den USA und Russland: »Es ist eine riesige geostrategische Tragödie, was da passiert.«
Die Wurzeln dafür, führte Sachs weiter aus, liegen im Jahr 1992. Damals sei von den USA die Entscheidung getroffen worden, die NATO bis zur – und um die – Ukraine zu erweitern: »Es geht nicht um Putin. Die ganze Sache begann schon vor Putin.«
1997 erschien im einflussreichen US-Fachjournal Foreign Affairs ein Zeitplan für die NATO-Erweiterung. Der Autor des Artikels »A Geostrategy for Eurasia«(Eine Geostrategie für Eurasien) war Zbigniew Brzezinski, der noch im selben Jahr sein Buch »The Grand Chessboard« (deutscher Titel: »Die einzige Weltmacht«) veröffentlichte, worin er darlegte, wie Russland am Schwarzen Meer eingekreist werden soll: »Das alles kann man als Wiederauflage des Krimkriegs betrachten: Russland soll aus der Schwarzmeerregion gedrängt werden«, erklärte Sachs.
Nach dem Sturz von Janukowitsch wurde eine Russland feindlich gesonnene Regierung eingesetzt und das Land von den USA her aufgerüstet. Die russische Sprache und Kultur wurden diskriminiert, im Osten entstanden Autonomiebestrebungen. Das mühsam erarbeitete »Minsk II«-Abkommen wurde von ukrainischer Seite nie eingehalten: »Meine damaligen ukrainischen Freunde – denn heute sehen sie mich nicht mehr als ihren Freund an – haben mir von Beginn an gesagt: Wir unterzeichnen das, aber natürlich werden wir es nicht einhalten«, erinnerte sich Sachs.
Putin habe daher zwei Forderungen gestellt: Umsetzung von »Minsk II« und keine weitere NATO-Osterweiterung. Die USA sehen Pläne für Erweiterungen als interne NATO-Angelegenheiten, die nicht mit Drittstaaten diskutiert werden müssen. Daher weigerte sich die US-Regierung, in Gespräche mit Russland zu treten, fasste Sachs zusammen.
Dennoch habe es im März 2022 eine Chance auf Frieden gegeben, als in Istanbul zwischen der Ukraine und Russland verhandelt wurde: »Die USA befahlen damals der Ukraine, die Gespräche abzubrechen.« Einer, der Sachs das erzählt hat, war der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der als informeller Mediator an den Gesprächen teilnahm. Es soll gerade der siebente Entwurf eines Friedensabkommens verhandelt worden sein, als die USA die Verhandlungen stoppten: »Ich habe das von allen so gehört, die daran teilgenommen haben«, betonte Sachs.
Nur selten hätten die USA irgendwo auf der Welt Neutralität unterstützt: »In Österreich hat das wunderbar funktioniert, weil ihnen das Land nicht wichtig war, aber als die Sowjetunion dasselbe für Deutschland vorschlug, was den Kalten Krieg bereits Ende der 1950er Jahre beendet hätte, waren die USA dagegen.« Ähnlich verhielt es sich im Fall der Ukraine: »Mit Janukowitsch hatte man einen Präsidenten, der Neutralität wollte und keinen Stellvertreterkrieg in seinem Land. Deshalb wurde er von den USA gestürzt.«
Aufgrund dieser Politik tobt nun Krieg. Wenn Russland auf dem Schlachtfeld gewinnt, könne das zu einer Eskalation durch die NATO, zu Verhandlungen oder zu einem Patt, der das Land teilt, führen. Wenn die ukrainische Gegenoffensive erfolgreich ist, würde Russland eskalieren und wohl taktische Atomwaffen einsetzen: »Russland wird nie akzeptieren, den Krieg militärisch zu verlieren«, glaubt Sachs. »Daher habe ich Angst vor einem ukrainischen Sieg.« Die militärischen Berater würden in den USA mit dem atomaren »Armageddon spielen«. Um das zu verhindern, müssen, so Sachs, unverzüglich Gespräche aufgenommen werden, die auf Friedensverhandlungen hinführen.
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