Exklusiv – Jeffrey Sachs im Gespräch: Aus diesem Grund wurde Nord Stream wohl zerstört

Warum vermutet der US-Starökonom die USA hinter den Lecks der Gas-Pipelines und nicht Russland? Und was erwartet nun die deutsche Wirtschaft? Seine Antworten.

Liudmila Kotlyarova

Wer steckt hinter dem offensichtlichen Sabotageakt gegen die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2? Eine Vermutung von US-Ökonom Jeffrey Sachs schlägt ein wie eine Bombe. In einem Bloomberg-Interview stellte Sachs, Direktor des Earth Institute an der Columbia University und ein renommierter Buchautor, den Verdacht in den Raum: Die USA könnten für die Lecks verantwortlich sein – und „vielleicht auch Polen“.

Um seine These zu begründen, verwies der 68-Jährige auf gewisse Radar-Überwachungen, die Helikopter des US-Militärs zeigen, und wie diese über den Nord-Stream-Pipelines kreisen würden. Auch die vielen politischen Drohungen in den USA, die Pipeline-Verbindungen zu unterbrechen, sieht Sachs als Indizien für eine mögliche Verwicklung der USA in den Vorfall.

Jeffrey Sachs: „Die Ukraine könnte auch ein Interesse daran haben“

Mit seiner Mutmaßung spricht Sachs vielen US-Kritikern aus der Seele, die den politischen Druck der USA auf die Gas-Pipelines jahrelang kritisiert und einen ökonomischen Zweck dahinter, nämlich LNG-Lieferungen nach Europa, vermutet haben. Doch genauso wird auf der anderen Seite die These gepflegt, dass der russische Staat oder Gazprom hinter dem Sabotageakt stecken könnten. Warum zeigt sich Sachs davon überzeugt, dass es die USA waren?

Das andere Länder daraus ihren Nutzen ziehen könnten, schließt der Ökonom nicht aus. „Die Ukraine könnte zwar auch ein Interesse daran haben, die Pipeline zu zerstören, aber ihr fehlen die Fähigkeiten und der militärische Zugang zur Nordsee“, argumentiert Sachs auf Anfrage der Berliner Zeitung am Mittwochmittag. Russland hat dagegen aus seiner Sicht keinerlei Interesse daran, die Pipelines zu zerstören. „Das widerspricht den Interessen Russlands. Russland verliert Einkommen, finanzielles Vermögen und Verhandlungsmacht“, so Sachs.

Das widerspricht den Interessen Russlands.

US-Ökonom Jeffrey Sachs gegenüber der Berliner Zeitung

Aus der wirtschaftlichen Perspektive spricht zwar nicht viel für Russlands Schuld. Nach Angaben von Gazprom waren vier Stränge der beiden Nord-Stream-Leitungen vor den Lecks mit 800 Millionen Kubikmeter Gas gefüllt. Nach aktuellen Gaspreisen an der Börse sind dem russischen Staatskonzern mit den Lecks rund 1,6 Milliarden Euro verloren gegangen. Und trotzdem stellt der Konzern die Möglichkeit in Aussicht, künftig Gas über den Strang B nach Europa liefern zu können.

Gazprom könnte zwar Interesse daran haben, keine Vertragsstrafen wegen der gestoppten Gaslieferungen an europäische Gasimporteure zu zahlen, doch dem Bundeswirtschaftsministerium sind noch keine Gerichtsprozesse dieser Art gegen den russischen Lieferanten bekannt. Uniper sei gerade noch dabei, seine rechtlichen Ansprüche an Gazprom zu prüfen, teilte ein Konzernsprecher der Berliner Zeitung mit.

Lecks an Nord-Stream-Pipelines: Das ist Jeffrey Sachs’ Prognose für die deutsche Wirtschaft

Die USA seien dagegen von Anfang an gegen die Pipelines gewesen, verweist Sachs gegenüber der Berliner Zeitung. „Sie warnten im Voraus vor der Zerstörung der Pipelines. Sie verfügen auch über die technischen Mittel für solch eine Aktion. Wahrscheinlich war es eine Boeing P-8 Poseidon, die auch von Überwachungsmonitoren gesehen wurde.“

Die USA würden auch strategisch und finanziell von der Operation profitieren, sagt Sachs weiter. Tatsächlich nannte der US-Außenminister Antony Blinken die Zerstörung der Pipelines eine „enorme Chance“, die Abhängigkeit Europas von russischer Energie zu beenden. „Der mit Abstand wahrscheinlichste Täter hinter der Aktion sind also die USA“, so Sachs.

Des Weiteren bezeichnet der US-Ökonom die aktuelle Krise in Europa in erster Linie als eine Energieversorgungskrise. Würden die Maßnahmen wie eine von der Bundesregierung geplante Gaspreisbremse dagegen helfen? Sachs urteilt: „Preismanagement wird Unternehmen und Haushalten zwar beim Cashflow, also im Sinne der Liquidität, helfen, aber die europäische Wirtschaft, einschließlich der deutschen Wirtschaft, wird aufgrund der physischen Begrenzung der Energieversorgung schrumpfen.“

Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines nennt der US-Ökonom einen weiteren schweren Schlag für Deutschland, da sie eine schnelle Rückkehr zu russischen Gasflüssen noch schwieriger mache. „Die Pipelines wurden wohl auch deswegen zerstört“, vermutet Jeffrey Sachs.

Jeffrey Sachs wirft der Ukraine Blockierung eines Verhandlungsfriedens vor

In dieser Hinsicht wäre ein Verhandlungsfrieden zur Beendigung des Ukraine-Krieges aus Sachs’ Sicht der wichtigste Weg zu einer wirtschaftlichen Erholung Europas. „Solange der Krieg andauert, wird die Wirtschaftskrise in Europa andauern.“ Wichtige Bedingungen für einen Verhandlungsfrieden seien bereits im März zwischen Russland und der Ukraine vereinbart worden, verweist der Ökonom, doch es scheine, dass die USA und das Vereinigte Königreich gegen die vereinbarten Bedingungen waren, insbesondere gegen die Neutralität der Ukraine, bemängelt Sachs. Das Scheitern der Verhandlungen habe dazu geführt, dass der Krieg fortgesetzt und damit die Wirtschaftskrise Europas vertieft worden sei.

Sein Vorschlag: Europa sollte beide Kriegsparteien drängen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, und die USA und das Vereinigte Königreich auffordern, einen Kompromiss statt eines fortgesetzten Krieges zu unterstützen. Die Sicherheit der Ukraine sollte durch eine europäische Sicherheitsvereinbarung gewährleistet werden, nicht durch die Erweiterung der Nato um die Ukraine, die einen Verhandlungsfrieden blockiert. Mit der möglichen Eskalation des Krieges zu einem nuklearen Konflikt hätten sich die Gefahren in den letzten Tagen enorm vervielfacht, so Sachs.

Zuvor hatte auch der Unternehmer und Hightech-Milliardär Elon Musk einen ähnlichen „Friedensplan“ für die Ukraine präsentiert. Der umstrittene Beitritt von vier ostukrainischen Regionen zu Russland, von westlichen Staaten eindeutig als Annexion abgelehnt, machen die Umsetzung dieses Plans derzeit jedoch unmöglich. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dazu noch ein Dekret unterzeichnet, wonach Kiew nur zu Gesprächen mit Russland, nicht aber mit Präsident Wladimir Putin bereit sei. Auch der Kreml begrüßte Musks Vorschlag, wies ihn aber im Kern zurück. Moskau dürfte andere Pläne für die Ukraine haben.

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